Zu den Ritualen, an denen ich eisern festhalte, gehört, dass ich mich morgens für die Arbeit immer vollständig und einigermaßen bürotauglich anziehe. Aber nach zwei Jahren Home Office, einem Umzug nebst Renovierung mitten im Lockdown, über einem halben Jahr Internetproblemen und gewisser, dem ungehinderten Zugang zum Kühlschrank geschuldeter Gewichtszunahme, kann ich zumindest nachvollziehen, dass man(n) es untem rum während der Arbeit bequemer mag.
Laut kurzem Portät am Ende des Buches ist Spörrle nur wenige Jahre jünger als meine Eltern, auch wenn seine Tochter während der geschilderten Erlebnisse gerade mal halb so alt wie ich war, und es gelingt ihm gekonnt den Grund für den vermehrten Home Office in seiner unmittelbaren (seine Frau) und mittelbaren (ein laut telefonietender, aber dann dich netter Nachbar) Umgebung unter den Tisch fallen zu lassen. Zwar konnte ich mich mit der ersten Geschichte über das Fehlen einer Hose bei der wichtigen Videokonferenz nicht identifizieren, doch spätestens beim Kapitel “zwei am Schreibtisch ist eine(r) zuviel” stimmte ich regelmäßig innerlich zu. Teils trocken teils zynisch und bestimmt das ein oder andere Mal sehr überspitzt schildert er also den “neuen Alltag”. Vom Kampf um den ruhigen Arbeitsplatz mit gutem WLAN, über die versaute Tagesplanung, denn “man sei ja zu Hause und könne sich doch um x Dinge nebenbei kümmern” (jenen Tag verbringt er im Schlafanzug), hin zu der leider zu Hause nicht vorhandenen Kantine und virtuell gefeierten Party ist alles dabei. Manches habe ich sogar sehr ähnlich erlebt und nicht immer war der Lernprozess erfreulich.
Meine bessere Hälfte weiß inzwischen, dass er während meiner Arbeitszeit im Arbeitszimmer lediglich geduldet ist und er vorsichtig das Arbeitszimmer betreten muss, sollte ausnahmsweise doch mal die Kamera an sein.
Von motivierten Essensplänen, die anfangs tatsächlich den zweiwöchigen Einkauf erst möglich gemacht haben, sind wir inzwischen abgekommen. Wir wissen, was wir in welchen Mengen für welchen Zeitraum brauchen und sind beim Kombinieren der Zutaten deutlich mutiger geworden. Ein paar neue Lieblingsrezepte hat es dennoch gebracht und seitdem ich festgestellt habe, dass ich mich in der Kantine gesünder ernährt habe, wird sogar kommentarlos Zucchini auf meinem Teller akzeptiert.
Da mein Geburtstag im Frühjahr liegt, war ich vermutlich eine der ersten, die versuchten die gesellige Runde durch diverse Laptops zu ersetzen. Auch die Moderation von zwei Team-Weihnachtsfeiern kann ich mir inzwischen auf die Fahne schreiben. Im ersten Jahr verschickte unsere Chefin mit kleinen und schönen Weihnachtsdingen befüllte Überraschungspakete, im zweiten Jahr schob meine Mutter mir unauffällig Gebäck und Kekse auf ihren Schreibtisch. Am morgen war bei uns mal wieder das Internet mehrmals abgebrochen und ich stand spontan panisch bei meinen Eltern vor der Tür. Mittlerweile haben wir bestimmt den ein oder anderen Support-Mitarbeiter bei Telekom verschlissen und neben dem Router, den Kabeln zum Switch und der Anschlussdose in der Wohnung auch das über 20 Meter lange Kabel vom Keller zu unserer Wohnung erneuert. Damit hören hoffentlich auch endlich die peinlichen Situation auf, in denen ich endlich etwas zum Meeting beitragen kann und prompt rausfliege.
Wer also noch nicht genug geistigen Abstand zur Arbeitssituation der letzten zwei Jahre hat, lasse bitte die Finger von diesem Buch! Es könnte traumatisch werden und all den beruflichen wie privaten Stress wieder aufleben lassen, den man durchs Lesen doch einfach mal vergessen möchte. Wer jedoch inzwischen fast schon darüber lachen kann, der sei herzlich eingeladen einmal jenseits der Webcam in einer anderen Wohnung Mäuschen zu spielen.
Gelesen: Mai 2022
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