Vor ein paar Monaten las ich ziemlich überrascht den Post eines ehemaligen Mitschülers, dass er langsam begänne, unser 10-Jähriges Abi-Treffen zu planen. Aber war es dafür denn nicht noch viel zu früh? Wir haben doch erst vor… oh, verstehe. Aber will ich dort überhaupt hin? Mich dem direkten Vergleich mit denjenigen stellen, die die “gleichen” Voraussetzungen für das Leben nach der Schule hatten wie ich? Mir vor Augen halten lassen, in welchen Bereichen ich vermeintlich versagt habe? Karine Tuil treibt diese Überlegungen mit einem Abstand von 20 Jahren in ihrem Buch über die Freunde Samuel und Samir auf die Spitze und mutet dem Leser dabei so viel menschliche Nähe zu, dass es nicht selten weh tut.
Was spielt sich im Kopf eines Schriftstellers ab, der meint, ein Thema gefunden, eingegrenzt zu haben? Zuerst freudige Erregung über seines Geistesblitz und gleich darauf der Fragenkatalog: Wie soll ich das Thema behandeln? In welcher Form? Mit welchem Ziel? Welchen Mitteln? Welches Ergebnis will ich erreichen?
Die Neugier mit der Samuel Baron, auf der Arbeit als Sozialberater Jacques genannt, um sich die Fragen nach seiner jüdischen Herkunft zu ersparen, über seinen ehemaligen Freund Samir Tahar recherchiert grenzt an mehr als nur Masochismus. Als sie sich vor zwanzig Jahren trennten, stand er als der Gewinner da. Nina hatte sich für ihn entschieden, hatte ihn später sogar geheiratet. Sie schmissen beide das Jurastudium für etwas, das mehr ihren Neigungen entsprach. Doch Samir, der ebenfalls in Nina verliebt war, eine Affäre mit ihr hatte, während sein bester Freund seine Eltern beerdigte, tat das nicht. Er machte weiter, absolvierte sein Studium mehr als erfolgreich, wurde Partner in einer New Yorker Kanzlei, heiratete die Tochter eines reichen Unternehmers, … und baute all dies auf einer Lüge auf, wie Samuel und Nina klar wird, sobald sie im Anschluss an das Fernsehinterview nach weiteren Informationen suchen. Der muslimische Sohn tunesischer Eltern, der sowohl in Paris als auch in London aufwuchs, den Vater früh verlor und außerdem einen fünfzehn Jahre jüngeren Halbbruder hat, tauschte seine Biografie gegen die seines ehemaligen Freundes. Er war nun der Sohn jüdischer Intellektueller, orthodox erzogen, sie starben, als er zwanzig war. Die vorangegangene Adoption, die einst zum Bruch zwischen Samuel und seinen Eltern führte, ließ er dabei jedoch aus.
Samir, für sein Umfeld deutlich neutraler “Sam”, genießt sein Leben in vollen Zügen, den Status den er durch seinen Beruf und nicht zuletzt die Familie seiner Frau erreicht hat, seine Beliebtheit bei den Frauen, seine Macht. All das kippt jedoch an seinem vierzigsten Geburtstag, als sich seine Mutter (Nawel) bei ihm meldet, es sei dringend, es ginge um seinen Bruder. Alarmiert reist er nach Paris und trifft sich auch mit Nina und Samuel wieder. Samuel hatte sie dazu gedrängt, will er doch wissen, ob sie ihre Entscheidung von damals (er hatte sie erpresst, sich im Hörsaal die Pulsadern aufgeschnitten) bereut, ob sie immer noch Gefühle für seinen Rivalen hat. Samir durchschaut ihre Inszenierung als ebenfalls erfolgreiches Paar schnell und stellt fest, dass er immer noch Gefühle für Nina hat. Nach einem ziemlich üblen Streit mit Samuel kann er sie sogar davon überzeugen, mit ihm nach New York zu kommen, seine Geliebte zu werden. Weniger erfolgreich verläuft sein Familientreffen. Seine Mutter, die darauf besteht weiterhin im heruntergekommenen Banlieue zu leben, zeigt ihm, dass sein Bruder heimlich Waffen versteckt, bittet ihn, sich einzumischen, doch Francois stellt sich sturr, will keine Hilfe und was hätte sein großer Bruder denn je für ihn getan?
Damit ist die Bühne für das beste Jahr in Samirs Leben bereitet. Er blüht durch die Anwesenheit von Nina, die er mit Geschenken überhäuft und sich zu seiner ständigen Verfügung halten muss, auf. Einzig die mehrwöchige Anwesenheit seines Bruders schmälert kurz die Freude. Allerdings wird er diesen mit dem Rat seines Mentors aus Frankreich, Pierre Levy, schnell wieder los: er tut so, als wolle er mehr an dessen Leben teilhaben, überzeugt ihn, sich endlich wieder eine Ausbildung zu suchen und unterstützt ihn mit monatlichen Geldzahlungen. Ruth, seine Frau, merkt von all dem nichts. Währenddessen geht es Samuel immer schlechter. Er leidet unter der Trennung von Nina, hört auf zu arbeiten, trinkt, greift schließlich zu harten Drogen – und arbeitet endlich an dem schon so lange geplanten Roman über seine Lebensgeschichte, den er Nina widmet. Sie selbst spricht er in dieser Zeit nur zwei Mal. Einmal, als er Geld braucht, seine Drogenschulden zu begleichen und seinen Laptop mit dem Manuskript wieder zu bekommen, ein zweites Mal, als er schlicht wissen will, wie es ihr geht und dabei tiefen Zweifel an der Art ihrer Beziehung zu Samir säht. Sie ist vollkommen von ihm abhängig, in diesem fremden Land ohne eigene Arbeit und kaum sozialen Kontakten, und fremdbestimmt, muss sich ihm und seinen “Bedürfnissen” unterordnen. Schließlich verlangt sie von ihm das eine, was ihr Samuel wegen der schwierigen finanziellen Lage immer verweigert hat: ein Kind. Samir gibt nach mehreren Wochen nach, kann ihr seinen Entschluss aber nicht mehr mitteilen.
Der vierte Abschnitt beginnt mit den kurzen, begeistertsten Kritiken zu “Die Tröstung”, Samuels Roman. Er hat es endlich geschafft und wird als Autor gefeiert. Doch bald leidet er unter seinem Ruhm und vor allem die negativen Kritiken machen ihm so sehr zu schaffen, dass er wieder trinkt. Er reißt sich aber zusammen und liest überrascht kurz vor einem Interview in ebendem Hotel, in dem sie sich wiedersahen, dass Samir wegen Terror-Unterstützung festgenommen sei. Trotz all dem, was er ihm selbst vorwirft, zweifelt er jedoch keine Sekunde an dessen Unschuld, womit er sehr allein darsteht.
Samir wird gewaltsam mitten in der Nacht aus seiner Wohnung entführt und ins Gefängnis gesperrt (er denkt dabei an den Beginn von Kafkas “der Proceß”). Nach und nach erfährt er, dass Francois/Djamal zum Islam konvertiert ist, radikalisiert wurde, das Geld seines Bruders unter anderem für Reisen in den Jemen und die Veröffentlichung antisemitischer Flugblätter verwendet hat, und schließlich in einem Ausbildungslager in Afghanistan vom amerikanischen Militär gefangen genommen wurde. Die finanzielle Unterstützung ist jedoch nicht das, was die Situation aussichtslos werden lässt. Sobald bekannt wird, dass er seine Biografie frei erfunden hat, steht er selbst unter Verdacht ein Schläfer zu sein. Seine Frau, zusätzlich von ihrem Vater unter Druck gesetzt, wendet sich von ihm ab und reicht die Scheidung ein, seine Freunde stellen sich gegen ihn, finden Belege für sein unrechtes Verhalten. Nur Pierre Levy und Dan Stein, eigentlich der Anwalt von Ruths Familie, später von Levy bezahlt, stehen noch hinter ihm. Denn Pierre glaubt Samir. Er hatte die Wahrheit bereits knapp ein Jahr zuvor erfahren und erkannt, dass der systematische Rassismus in Frankreich und nicht zuletzt seine eigenen Annahmen und im Bewerbungsgespräch geäußerten Nachfragen (“Sam für Samuel?”, er habe Familienmitglieder mit dem Namen Tahar, sephardische Juden) ihn zu dieser Lüge getrieben hatte. Überraschend stellt sich Samuel als wichtiger Fürsprecher heraus, der die öffentliche Meinung stark genug beeinflusst, dass schließlich das Verfahren eingestellt wird. Eigentlich wollte er Samirs Geschichte für sein zweites Buch ausschlachten, entscheidet sich jedoch aus Respekt dagegen und sucht stattdessen nach Nina, die mittellos in Paris ist. Sie konnte ihn bei ihrer überstürzten Rückkehr nicht finden und lebt nun in einem Frauenhaus. Als Samuel in einem dem alten Samir nicht unähnlichen Aufzug sie von dort “retten” will, weigert sie sich mit ihm zu kommen, sie sei glücklich und endlich frei davon, Männern gefallen zu wollen. Von dieser Akzeptanz der Einfachheit bewegt, lehnt Samuel anschließend einen wichtigen Literaturpreis ab. Und Samir stellt nach seiner Entlassung fest, dass er nun endlich frei von Ehrgeiz und Erfolgssucht sei; nur seine Mutter aus seinem Leben zu streichen und seine Kinder anzulügen seien seine einzigen wirklichen Fehler im Leben.
Das ist jetzt wirklich keine leichte Kost gewesen. Sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Fast alles ist im Präsenz geschrieben, es gibt kaum wörtliche Rede und vor allem auf den ersten siebzig Seiten sucht man so etwas wie Handlung vergeblich. Dennoch hat mich dieses Buch schließlich so sehr gepackt, dass ich die zweite Hälfte an zwei Abenden einfach runter gelesen habe. Die Figuren sind so komplex und facettenreich geschildert, dass sie tatsächlich real sein könnten, selbst noch so kleine Nebencharaktere erhalten durch Fußnoten mit Alter, Name und ihren Wünschen oder vergangenen Erlebnissen Tiefe. Wer dabei seltsam eindimensional bleibt ist Nina. Vor allem in der Fülle, mit der ihre angeblich gleich gestellten Freunde zu Beginn eingeführt werden, bleibt sie blass. Man erfährt, dass ihre Mutter sie und ihren Vater für einen anderen Mann sitzen gelassen hat, dass sie als Model für einen Kaufhauskatalog arbeitet, sich ihrer Wirkung auf Männer durchaus bewusst ist, diese aber meistens als störend empfindet. Und da haben wir es. Sie wird meist aus männlicher Perspektive geschildert, als würde sie nur durch sie existieren, und verkommt dabei tatsächlich zum Objekt, die Trophäe im Wettstreit. Umso mehr hat mich ihr Ende berührt, in dem sie sich endlich davon losmacht, äußerlich gefallen zu wollen. Ebenfalls fertig mit den Männern ist Nawel, die nach dem Zusammenbruch ausgelöst durch die Nachricht, dass beide Söhne im Gefängnis sind, erkennt, wie anders ihr Leben hätte verlaufen können, wenn sie sich nicht ständig erst ihrem Vater, dann ihrem Mann, ihrem Geliebten und schließlich ihren Söhnen untergeordnet hätte. Die “Verliererin” in dieser Betrachtung ist erstaunlicherweise Ruth, die zu Beginn als starke, selbstbewusste Frau eingeführt wird, die den Frauenheld Samir für sich gewann, obwohl sie nicht in sein übliches Beuteschema fiel, sich mit der Heirat gegen ihren Vater durchsetzte, denn ausgerechnet sie beugt sich der gesellschaftlichen Erwartung.
Zu einem weiteren Leitmotiv des Buches fällt es mir ziemlich schwer etwas zu sagen. Tuil spielt in ihren Wechseln zwischen Samuel und Samir oft mit Gegensätzen (wie gut es Samir geht, während es Samuel gleichzeitig so schlecht geht, später verkehrt sich das Ganze) und zwei von allen Figuren immer wieder aufgenommene Kontrahenten sind Islam und Judentum. Ich habe das Glück, dass beide Glaubensgruppen in meiner Heimatstadt ausreichend vertreten sind, dass ich als Jugendliche, als es bei mir selbst darum ging wie ich mit meinem christlichen Glauben umgehen möchte, nicht über sondern mit ihnen diskutieren konnte. Dennoch möchte ich mir über ihre Darstellung im Buch kein Urteil erlauben. Auffällig ist, wie sehr die Religion mit der Herkunft gleichgesetzt wird, beide “Seiten” können von Benachteiligung deswegen berichten, diskriminieren aber auch die andere Seite aus diesem Grund. Dabei will ich es hier auch schon bewenden lassen. Es gibt genug Leute, die das vermutlich besser erklären können als ich.
Zum Abschluss noch kurz zum Titel und dem Ende als dessen Auflösung. Zu Beginn dachte ich, die angesprochene Gier beziehe sich nur auf Samuel und teilweise Nina, die ihr Wissen gegenüber Samir ausnutzen wollen, um ihn zu erpressen, ihr eigenes Leben zu verbessern. Zum Ende hin wird jedoch deutlich, dass viele der vorgestellten Charaktere von ihr angetrieben werden. Samir will seine ärmliche Vergangenheit hinter sich lassen, sein Bruder Francois möchte endlich Anerkennung, Rahm Berg, Ruths Vater, die perfekte Familie, … Bei den ansonsten eher vagen Zeitangaben ist mir außerdem ins Auge gefallen, dass Samir bis zur Verfahrenseinstellung 66 Tage in Haft saß – dem Zeitraum, den es angeblich braucht, bis sich Gewohnheiten ausbilden. Das was ich daher für mich aus diesem für mich komplett aus dem Rahmen fallenden Buch mitnehme, ist, dass man durchaus nach Erfüllung in seinem Leben streben soll, aber immer das Maß kennen sollte, um es auch tatsächlich genießen zu können.
Begonnen: 17.10.20 Beendet: 29.10.20